Aus Aufwärts: Praktische Ratschläge für die Jugend - 5. Kapitel: Dein Talent ist deine Berufung
Merkwürdig ist es, dass viele Menschen, die in ihrem Fach schon Tüchtiges geleistet haben, sich dennoch einbildeten, sie hätten ihren Beruf verfehlt und sich nach einer Tätigkeit sehnten, für die sie ganz und gar ungeeignet gewesen wären.
Wie viele, die sich als Kaufleute zum Beispiel auszeichneten, gingen mit dem Wahn durchs Leben, sie hätten sich als Künstler unsterblichen Ruhm erwerben können. Thomas Gray, der vielbeneidete englische Dichter, wäre am liebsten Soldat gewesen; General Wolfe, der Eroberer Quebecks, meinte, es wäre ihm leichter gefallen, Grays „Elegie“ zu dichten, als Quebeck zu nehmen.
Ein ausgezeichneter Advokat wurde zu einem mehr denn mittelmäßigen Richter. Jeder, der ihn kannte, hielt ihn für den geborenen Anwalt, doch ihm genügte das nicht, er dachte es sich weit schöner, im Richterkollegium zu sitzen. Er erreichte das Ziel seiner Wünsche, aber er verlor stark an Boden, obwohl er keine Mühe scheute. Ihm fehlte es an ruhiger Überlegung, an unbeirrbarem Rechtssinn, an der sachlichen Kritik, die zu diesem Amt nötig sind. Seine Urteilssprüche trafen meist das Unrichtige. Als Advokat hätte er große Aussichten gehabt, als Richter hat er sie weggeworfen.
Kürzlich hörte ich einen Vater die Berufsfrage mit seinem Sohn besprechen und diesem den Rat erteilen, das Handelsfach zu wählen, weil man darin voraussichtlich das meiste Geld verdienen könne. Der Sohn indessen hatte eine ausgesprochen schriftstellerische Begabung, seine ganze geistige Anlage wies in diese Richtung. Doch der Vater hielt ihm immer wieder die relativ armselige materielle Lage der Schriftsteller vor, setzte ihm auseinander, dass ein guter Kaufmann in einem einzigen Jahr mehr verdiene, als ein Durchschnittsautor in seinem ganzen Leben. Dann appellierte er an die Genusssucht, an den Hang zum Wohlleben beim Sohn, ohne auch nur daran zu denken, dass es seine Pflicht wäre, dem Keim, den der Schöpfer in ihn gelegt hatte, zu seinem Recht, seiner Entwicklung zu verhelfen.
Lieber Freund, möchtest du dir nicht einmal die Frage stellen: Welche Möglichkeiten liegen in meinem Sohn?
Statt sich solche Fragen vorzulegen, versuchen so viele Väter, ihre Söhne einzig im Sinn des Gelderwerbs zu beeinflussen.
„Wenn wir den heutigen Zustand der Jugend beklagen“, sagt Paul Schwabe, „so trifft dieser Vorwurf uns selbst. Die Jugend wird so, wie wir sie uns bilden. Was aber lehrten wir sie? Schrankenloses Sichausleben, Sichdurchsetzen lehrten wir sie. –, ... mache Geld, mein Sohn, wenn du kannst, ehrlich, aber mache Geld‘, das stand in großen Buchstaben über unserer Entwicklung.“
Wisst ihr denn, dass weder Eltern noch Lehrer die innere Stimme vernehmen können, die euren Sohn oder eure Tochter zu ihrem Lebenswerk ruft? Ihr könnt es ja nicht oder wenigstens nur höchst selten wissen, was der Schöpfer in dieses Stückchen Ton hineingewickelt hat, noch wissen es vielleicht eure Kinder, denn viele der geistigen Anlagen entwickeln sich verhältnismäßig spät, manchmal sogar erst, wenn aus dem Knaben ein Mann, aus dem Mädchen eine Frau geworden ist. Bei einigen Menschen bekommt der Geist erst gegen das dreißigste Jahr, bei manchen noch später, sein richtiges Ausmaß und Gleichgewicht, so dass du jetzt noch nicht darüber urteilen kannst, welche Eigenschaften schließlich in deinem Kind vorherrschen werden. Und dass du die Laufbahn deines Sohnes oder deiner Tochter allein bestimmen willst, geht nicht an, sondern ist gleichsam, wenn auch unbewusst, eine Missachtung des Schöpfers. Wenn der Höchste Geist und Sinn dein Kind zu etwas Besonderem geformt hat, wenn es berufen ist, seine eigenste Rolle in dem großen Drama des Lebens zu übernehmen, darfst du dir nicht anmaßen, ihm eine andere zuzuweisen oder es zu einer andern drängen zu wollen.
Gewiss hast du die Pflicht und das Recht, sein Freund und Berater zu sein, nicht aber sein Tyrann. Denn deines Kindes Lebensaufgabe muss die Zustimmung jeder Fiber seines Wesens haben, alles in ihm muss Ja und Amen zu ihr sagen, sonst wird sie kein Meisterstück, sondern ein Pfuschwerk, im besten Fall etwas Mittelmäßiges oder Halbes.
Lasst es euch gesagt sein, ihr Eltern und Erzieher, dass ihr die Verantwortung für eine Beeinflussung der Jugend tragt, die sie in eine Sphäre locken kann, die ihr sonst versagt sein müsste. Vergesst nicht, was die Welt der Beharrlichkeit junger Menschen verdankt, die dem Wunsch der Eltern bezüglich ihrer Laufbahn die Gefolgschaft verweigerten. Wie viele große Erfinder sind der Menschheit zum Beispiel allein unter den Gelehrten erhalten geblieben, weil sie in ihrer Jugend ihren eigenen Willen – ihr nanntet es Eigensinn – durchsetzten!
Und ihr, junge Leute, lasst euch sagen, dass hinter den Zielen, die das Talent im Leben erreichte, die Erfahrung, der Fleiß unzähliger Tüchtiger liegt und dass ihr nicht verschmähen dürft, den Wegen nachzugehen, die auch dem Begabtesten nicht erspart bleiben können. „Die Aristokratie des Talents muss die Pflicht dieses Mühens anerkennen, denn ausgesprochenes Talent ist die Weisung zu angestrengter und beharrlicher Verfolgung dieses Zieles.“
Und lasst es euch gefallen, wenn eure Erzieher euch davor bewahren wollen, euer Streben auf Ziele hinzulenken, die nur dem wahren Talent beschieden sind. Denn überall kann man Menschen sehen, die Zeit, Mühe und Lebenskraft an allerlei fruchtlose Versuche vergeuden, die irrigerweise die Vorliebe für eine Sache mit Begabung dafür verwechseln. Es gibt Tausende von Mädchen, die wahrhaft darauf versessen sind, zur Bühne zu gehen, weil das Theaterleben eine Art magische Anziehungskraft auf sie ausübt, und doch besitzen sie nicht die geringste Anlage dafür, die Stimme, die sie zu hören meinten, beruhte auf einer Sinnestäuschung.
Unzählige Männer und Frauen haben jahrelang darum gerungen, sich als Sänger oder Sängerinnen einen großen Namen zu machen, und doch verfügten sie nur über eine schwache Stimme und eine kaum nennenswerte musikalische Begabung. Ich kenne Schriftsteller, die mit unsäglicher Anstrengung um die Palme auf einem Gebiet ringen, das ihnen verschlossen ist, indes diese ihnen auf einem andern längst in den Schoß gefallen wäre.
Lass dich nicht verleiten, aus deiner Freude an Schauspielen eilends zu schließen, du seiest der geborene Tragöde, oder es stecke, weil du gerne Gedichte liest, ein Dichter in dir. Gewiss, Fleiß und Ausdauer können viel zur Entwicklung eines künstlerischen Sinnes beitragen, aber zum wahren Künstler sind nur wenige berufen.
„Talent“, so drückt sich ein deutscher Schriftsteller aus, „bedeutet in der Ursache ein gewisses Maß an edlem Metall. Der Talentvolle, wie der des Talents Ermangelnde, würden des Schatzes sich freuen können, ohne seiner Blendung zu erliegen, wenn der eine eingedenk wäre, dass jedes Maß, auch das reichste, seine unerbittlichen Grenzen hat, und wenn der andere sich sagte, dass das Eigentümliche des Edelmetalls seine Unnachahmbarkeit ist.“
Ich fragte einst einen jungen Mann, wie er es denn wissen wolle, dass er eben das, wozu er gemacht sei, tue. „Weil ich jedesmal, wenn ich etwas anderes versuchte – und ich habe alles Mögliche versucht – wieder auf meine jetzige Tätigkeit zurückgekommen bin“, gab er mir zur Antwort. – Das gab ihm die Überzeugung, dass es das Richtige sei.
Nun denn, das, zu dem wir immer wieder zurückkehren oder zurückkehren möchten, ist unsere wahre Bestimmung im Leben.
Ein mir bekannter Mann, der dazu berufen wäre, ein großer Schriftsteller zu sein, ist genötigt, einen großen Teil seiner Zeit auf die Herausgabe eines Blattes zu verwenden. Er besorgt dies nicht nur so nebenbei, sondern in sehr gründlicher Weise, aber sein Herz ist nicht so dabei beteiligt, wie bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Diese ist sein eigentliches Arbeitsfeld, aber er hält sich für verpflichtet, sich in erster Linie dem andern zu widmen, soviel Zeit es ihn auch kostet.
Nun, dieser Mann begeht einen großen Fehler, weil er sich mit Dingen befasst, bei denen er keine zehn Prozent seiner Möglichkeiten ausnützt. Würde er sozusagen ganz bei seinen Leisten bleiben, könnte er seine Beteiligung auf hundert Prozent steigern. Er handelt also sehr unökonomisch, gegen alle Gesetzte der Ertragsfähigkeit. Dabei hat er einen ganzen Stab von Leuten um sich, die ihm zwei Drittel seiner journalistischen Arbeit nicht nur abnehmen, ja diese vielleicht noch besser machen könnten. Aber er hält daran fest, trotz aller Mühe, die er daran wenden muss. Maschinen, die dazu bestimmt sind, feine Zeitmessapparate herzustellen, wären für die Fabrikation feiner Nägel oder Kompasse nicht verwendbar, sehr gut dagegen lassen sie sich für Uhrteile benutzen. Ebenso bedeutet eine für Gebildete ungeeignete Beschäftigung ungefähr dasselbe, wie wenn man ein Rennpferd an einen Sturzkarren spannen wollte. Unter den Unglücklichen, die in Gefängnissen oder Irrenanstalten untergebracht sind, begegnen wir oft den Opfern unbefriedigter Wünsche, die dem Ruf, der in ihrem Blut lag, nicht folgten oder nicht folgen konnten.
Der Schöpfer hat keine Pfuschwerke gemacht, hat keines seiner Geschöpfe zum Narren gehalten, in dem er sie mit Fähigkeiten ausstattete, ohne ihnen zugleich eine Möglichkeit zu geben, sie zu verwerten. Für jede Anlage, jedes Talent, jeden Genius gibt es eine günstige Gelegenheit. Mit dem Talent wird uns zugleich auch die Macht verliehen, uns dessen zu bedienen.
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