Aus NACH HÖHEREM STREBEN - 16. Kapitel: Selbstbefreiung um jeden Preis
Tausende und Abertausende leben in Verhältnissen, die sie einengen und bedrücken, in einer Luft, die keine Begeisterung aufkommen lässt, in der jeder Ehrgeiz erstickt und Kraft und Zeit umsonst verschwendet werden. Sie haben nicht Kraft und Mut genug, die Fesseln zu durchbrechen, die sie hemmen, alle Krücken und Stützen wegzuwerfen und sich nur auf die eigene Kraft zu verlassen. Aber sie müssen eben in Verhältnisse kommen, in denen sie das zu leisten imstande sind, was sie leisten wollen: ohne das stirbt schließlich jedes höhere Streben in ihnen ab. Willst du zu der rechten Weite des Daseins, zu der höchsten Entwicklung deiner selbst, zu der vollen Betätigung deiner Fähigkeiten gelangen, so musst du dich um jeden Preis frei machen.
Nichts kann dich dafür entschädigen, dass du das Beste in dir erstickt hast. Mache es vielmehr lebendig und lass es zur Tat werden um jeden Preis. Es kostet freilich oft viele Reibungen, viele Leiden, viele Kämpfe, ehe das sich durchsetzt, worin die wahre Stärke deines Wesens liegt. Der Diamant kann seinen Glanz und seine Schönheit nicht entfalten ohne die Reibungen mit dem Stein, der seine Flächen schleift und glättet und so erst das Licht in ihn eindringen lässt, das seinen verborgenen Wert enthüllt: das ist der Preis für seine Befreiung aus der Dunkelheit.
Viele Menschen werden in Banden gehalten durch Unwissenheit. Sie kommen nie zu der inneren und äußeren Freiheit, die die Folge von Bildung und Kenntnissen ist. Ihre geistigen Kräfte bleiben immer gebunden, sie sind nicht stark genug, um ihre Freiheit zu erkämpfen und den Mangel an früherer Ausbildung wieder gut zu machen. Sie meinen, sie seien zu alt, um das noch anzufangen; der Preis, den die Freiheit kostet, scheint ihnen zu hoch für ihre Jahre, und so schleichen sie auf der Ebene dahin, während sie imstande gewesen wären, zu den Höhen zu klimmen, wo die Überlegenheit wohnt.
Andre liegen in den Fesseln des Vorurteils und des Aberglaubens, und so wird ihr Leben eng und gewöhnlich. Das sind die Hoffnungslosesten von allen. Sie sind so blind, dass sie nicht einmal merken, dass sie unfrei sind, sondern sogar die noch für gebunden halten, die anders denken als sie.
Ein andres Hindernis der Selbstbefreiung ist die Zaghaftigkeit. Tausende von jungen Leuten lassen sich durch Zaghaftigkeit, durch Mangel an Selbstvertrauen davon abhalten, das aus sich zu machen, wozu sie bestimmt sind. Sie fühlen wohl, dass bestimmte und starke Kräfte in ihnen nach Ausdruck ringen, aber sie haben Furcht, sie möchten nicht durchdringen, sie möchten anspruchsvoll oder selbstsüchtig erscheinen, und diese Furcht verschließt ihnen den Mund, schwächt ihnen die Hand, hindert ihr inneres Streben an Betätigung, und so stirbt es an Untätigkeit. Sie wagen nicht, etwas Gewisses für etwas Ungewisses aufzugeben, sie trauen sich nicht, sich durchzusetzen. Sie warten und warten und hoffen, irgendeine geheimnisvolle Macht werde sie befreien und ihnen Selbstvertrauen und Hoffnung einflößen.
Die erste Bedingung des Erfolges ist, dass wir alles abtun, was uns hinderlich ist, und uns möglichst von einer Umgebung losmachen, die unsre Kräfte lähmt. Die meisten Menschen haben irgendetwas, das sie lähmt und fesselt, und können deshalb das nicht leisten, was ihnen an sich recht wohl möglich wäre: sie bringen es nur zu geringen und minderwertigen Leistungen und müssen das Große und Bedeutende ungetan lassen, zu dem doch die Fähigkeit in ihnen liegt.
Die Schuld liegt fast immer daran, dass wir zwar das Streben haben, etwas Tüchtiges zu leisten und vorwärts zu kommen, aber wir bringen uns nicht selbst so weit, dass wir gewinnen: wir vertrauen zu sehr auf das sogenannte „Glück“.
Frage die Männer und Frauen, die Großes geleistet haben, wem sie ihre Kraft, ihren weiten Gesichtskreis, die Vielheit der Erfahrungen verdanken, die ihr Leben so reich gemacht haben. Die meisten werden dir antworten: „dem Kampf“. Die beste Erziehung ihrer Fähigkeiten und ihres Charakters verdanken sie den Anstrengungen, die sie gemacht haben, um aus Verhältnissen loszukommen, die ihrer Entfaltung ungünstig waren, die Bande zu brechen, die sie fesselten, die rechte Ausbildung zu erhalten, von der Armut frei zu werden, einen lang gehegten Plan auszuführen, ihr Ziel zu erreichen.
Ungestillte Sehnsucht und unterdrückter Ehrgeiz zerstören unsre Kraft, machen uns hoffnungslos und rauben uns unsre Ideale: sie machen uns zu leeren Schalen, indem sie das aus uns wegnehmen, worin die Verheißung unsrer Zukunft lag.
Ich kann nicht glauben, dass ein Mensch wahrhaft glücklich sein kann, wenn er dem nicht Ausdruck verleiht, was Gott als das seine Entwicklung Beherrschende in ihm gelegt hat, wenn er nicht jene große Sehnsucht stillt, die alles andre in ihm übertönt.
Ein einziges Talent und Freiheit für seine Betätigung – das ist besser als Genie, verbunden mit Abhängigkeit.
Wie viele Menschen arbeiten für andre und wären doch sehr wohl imstande, etwas Eigenes zu leisten, ja noch andern Arbeit zu geben; aber sie sind so gefesselt und gehemmt durch falsche Verbindungen oder widrige Umstände, dass sie sich die Freiheit nicht erkämpfen können, in der sie imstande wären, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Wie günstig auch die äußeren Bedingungen scheinen mögen, die dir geboten werden, Geld, hoher Rang oder Einfluss: nimm nie eine Stellung an, in der du nicht ein unabhängiger Mann bleiben kannst, und lass dich weder durch hohes Gehalt noch durch die Aussicht auf späteren Einfluss dazu verführen. Lass dir durch keine Erwägung deine Zunge fesseln oder deine Meinung knebeln.
Betrachte deine geistige Unabhängigkeit als dein angestammtes Recht, das du um nichts in der Welt hergibst. Gibt es irgendetwas auf der Welt, das einen jungen Mann dafür entschädigen könnte, dass er auf seine Freiheit im Handeln, im Reden und im Denken Verzicht leisten muss? Kann ihn der größte Reichtum dafür entschädigen, dass er gebückt und kriechend durchs Leben gehen muss, während er die Kraft hätte, sein Haupt aufrecht zu tragen und der Welt ohne Scheu ins Gesicht zu sehen?
Ein berühmter Künstler wurde einst gefragt, ob ein bestimmter Schüler von ihm einmal ein großer Maler werde, und gab zur Antwort: Nein, denn er hat hunderttausend Dollar Einkommen. Der Mann wusste, worauf es ankommt: nämlich dass der Kampf gegen Schwierigkeiten die Kräfte stählt, und dass im Sonnenschein des Glückes und Reichtums selten große Männer wachsen.
Andrew Carnegie sagt einmal: „Wer das Unglück hat, der Sohn eines reichen Mannes zu sein, der gleicht einem Pferd, dem beim Rennen ein besonders schweres Gewicht zugelegt wird. Weitaus die meisten Söhne reicher Männer sind nicht imstande, den Versuchungen zu widerstehen, die in ihrem Reichtum liegen, und sinken zu unwürdigem Lebenswandel herab.
Von dieser Klasse hat ein aufwärtsstrebender Mensch ohne Geld nichts zu fürchten. Ihr jungen Leute ohne Geld habt keine Angst vor dem Sohn des Geschäftsinhabers; aber seid auf der Hut, dass nicht einer, der noch viel weniger hat als ihr, dessen Eltern ihm nicht die geringste Ausbildung geben konnten, euch überhole. Hütet euch vor dem Jungen, der unmittelbar von der Volksschule weg in die Arbeit muss und der seine Laufbahn damit beginnt, dass er im Geschäft die Zimmer reinmacht. Er ist höchstwahrscheinlich das zu fürchtende ‚dunkle Pferd‘, das im Wettrennen des Lebens alle Gewinne und allen Ruhm einstreichen wird.“
Der Kampf mit der Armut war der größte Menschenerzieher und Kraftentwickler. Wäre jeder Mensch, wie man sagt, mit einem silbernen Löffel im Mund geboren und wäre gar kein Zwang zur Arbeit vorhanden gewesen, so stünde die Menschheit heute noch in den Anfängen der Entwicklung.
Ein Blick auf die Geschichte Amerikas zeigt, dass die große Mehrzahl der Männer, die bei uns etwas Großes erreicht haben, als arme Jungen angefangen haben. Unsre besten und erfolgreichsten Männer von heute sind aus der Schule der Not hervorgegangen. Unsre großen Kaufleute, die Leiter der großen Eisenbahngesellschaften, die Leiter und Lehrer unsrer Hochschulen, die Erfinder, die Naturforscher, die Fabrikanten, die Staatsmänner – fast alle von ihnen sind durch die Peitsche der Not vorwärts gekommen, weil sie aus der Tiefe emporstreben mussten. Wie viele junge Leute sind als Einwanderer in unser Land gekommen, ohne Bildung, ohne Kenntnis unsrer Sprache, ohne Freunde und ohne Geld, und sind zu reichen und angesehenen Männern geworden! Damit haben sie Tausende von andern jungen Leuten beschämt, die, im Lande geboren, alle Vorteile genossen haben, die Reichtum Ausbildung und gute Beziehungen gewähren, und von denen doch nie jemand etwas gehört hat.
Kraft ist nur da, wo eine andre Kraft überwunden werden musste. Der Riese ist stark, weil er mit tausend Feinden zu kämpfen hatte. Wer niemals zu kämpfen braucht, der wird auch niemals stark. Wer ohne Kampf lebt, der stirbt, ehe er nur ein halber Mann geworden ist. Ein junger Mann, der im Schoß üppigen Reichtums geboren und aufgewachsen ist, der immer von allen Seiten unterstützt wurde, der niemals gezwungen war, sich selber sein Brot zu verdienen, der von Jugend auf verwöhnt wurde – der wird selten oder nie ein wirklich starker Charakter werden. Er gleicht dem schwachen Bäumchen, das inmitten großer schützender Stämme aufwächst und immer klein und schwach bleibt: es kann niemals wachsen wie die Rieseneiche, die von der Eichel an mit Sturm und Wetter den Kampf ums Dasein kämpfen musste.
Ich bin gewiss kein Lobredner der Armut, wenn sie als endgültiger Zustand angesehen wird. In dem Fall ist sie ein Übel; aber ein Segen ist sie als Sprungbrett für eine Laufbahn. Sie ist wie das Turngerät: sie entwickelt die Kräfte. Sie ist an sich ein Fluch und eine Knechtschaft, aber es kommt alles darauf an, dass man sie überwindet: und diese Überwindung, wenn sie nur ehrlich und gewissenhaft geschieht, ist der beste Kräfteentwickler.
Grover Cleveland, der selber als armer Angestellter mit zweihundertfünfzig Dollar im Jahr anfing, sagt über die Armut als Kraftentwickler: „Es gibt keine Entwicklung der geistigen Kräfte und keinen Antrieb zur Ausbildung aller wahren Männlichkeit, die so wirksam ist als die Verbindung von richtig geleitetem Ehrgeiz mit dem heilsamen Zwang der Armut.“ Was würde ein junger Mann vom gewöhnlichen Durchschnitt leisten, wenn er nicht gezwungen wäre, zu arbeiten, wenn er sich nicht anstrengen müsste, um das zu bekommen, was er haben will? Wenn er schon alles hat, was er braucht, wozu sollte er sich da anstrengen? Kaum einer auf zehntausend würde den Kampf des Lebens auf sich nehmen bloß mit der ausgesprochenen Absicht, seinen Charakter dadurch zu stärken und ein tüchtiger Mann zu werden; aber er nimmt ihn sofort auf sich, wenn er dabei das Ziel verfolgen muss, dass er nur so das bekommt, was er haben will und was er und die Seinigen nötig brauchen. Ein Junge, der weiß, dass ein Vermögen auf ihn wartet, wird sagen: „Wozu brauche ich so früh aufzustehen und zu arbeiten? Ich habe Geld genug zu erwarten, so dass ich das nicht nötig habe.“ Er wird sich noch einmal umdrehen und weiterschlafen. Dagegen den Jungen, der nur auf sich selbst angewiesen ist, den treibt die Notwendigkeit, und er springt mit beiden Füßen aus dem Bett und geht an die Arbeit, denn er weiß, für ihn gibt es keinen andern Weg als den Kampf.
So hat es die Natur höchst weise eingerichtet, dass der Mensch das, was er am stärksten begehrt, nur durch den Kampf mit der Not erreicht; und so bringt sie sozusagen nebenher den Fortschritt der Menschheit und die Entwicklung des Charakters hervor.
Die Natur zahlt den höchsten Preis dafür, dass einer ein Mann wird. Sie führt ihr Kind durch die härteste Schule und erzieht es jahrelang in der Hochschule der Not – alles nur, um ihr Werk zu vollenden. Was es nebenbei an Geld oder guten äußeren Verhältnissen gewinnt, das ist ihr Nebensache; sie arbeitet bloß daraufhin, dass es tüchtig und kräftig wird. Sie kümmert sich nicht um das andre, aber sie tut alles, dass ihr Zögling das wird, was sie aus ihm machen will: ein Mann.
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